Träumen als Probehandeln

Träumen als Probehandeln

Noch vor einigen Jahren vertraten manche Hirnforscher die Auffassung, der Auslöser für Traumbilder sei die Brückenregion im Hirnstamm. Träume interpretierten sie als den Versuch höherer Hirnregionen, den aus dem Hirnstamm aufsteigenden Rauschsignalen eine Bedeutung zuzuschreiben.

Diese Ansicht ist inzwischen überholt. Neuere Untersuchungen des britischen Psychoanalytikers und Neuropsychologen Mark Solms haben ergeben, dass bestimmte Regionen im Frontalhirn für das Träumen unabdingbar sind. Schädigungen in diesem Bereich führen nicht nur zu einem vollständigen Traumverlust, sondern auch zum Ausfall des inneren Antriebs im Wachzustand. Was für Freuds These spricht, dass Träume motivierte Phänomene sind. Doch in den vergangenen 1oo Jahren hat sich auch die psychoanalytische Theorie über Entstehung und Bedeutung von Träumen tief greifend gewandelt. Zwar gilt nach wie vor die Freud’sche Auffassung, dass der tiefere Sinn von Trauminhalten entschlüsselt werden kann. Allerdings werden Traumsymbole heute weit weniger pauschal als noch zu Freuds Zeiten interpretiert – eine dunkle Höhle symbolisiert nicht zwangsläufig ein weibliches Genital oder Ähnliches. Wiederkehrende Traumsymbole erklären sich vielmehr aus der unbewussten individuellen Konfliktgeschichte des Träumenden. Die dunkle Höhle könnte zum Beispiel auf Erinnerungsspuren an ein traumatisches Erlebnis aus dem Kleinkindalter – etwa das Verschüttetwerden während des Kriegs – hindeuten. Die meisten Psychoanalytiker halten daher an der These fest, dass Träume für das Gehirn eine Möglichkeit darstellen, aktuelle oder frühere ungelöste Konflikte durch ein Probehandeln in einer Art Mikrowelt zu bearbeiten. Solche Erklärungsmodelle beeinflussen den therapeutischen Umgang mit Träumen. Analytiker sind heute weit besser als früher darin geschult, bei der Traumdeutung den Kontext aktueller Beziehungen und Situationen miteinzubeziehen. Beispielsweise träumt ein Patient von einem gutmütigen Riesen, der ihn im Traum liebevoll auf die Schulter hebt – wobei dessen blauer Lidschatten frappierend an den seiner Analytikerin erinnert. Es stellt sich heraus, dass der Betreffende unbewusst durch das blasse Aussehen seiner Therapeutin beunruhigt war – ein Problem, das er nur im Traum lösen konnte: Der auslösende Stimulus (die blasse Analytikerin) wurde im Traum mit dem ungelösten frühkindlichen Konflikt (der wenig belastbaren, kränkelnden Mutter) in Verbindung gebracht und in der Traumsprache gestaltet. Aus Sicht der Psychoanalyse kommt Träumen als nächtliche seelische Aktivität also zweifellos eine wichtige Problemlösefunktion zu. So erstaunt es nicht, dass Menschen, die am Schlafen und Träumen gehindert werden, innerhalb kürzester Zeit ihr seelisches Gleichgewicht verlieren. Die neueren Erkenntnisse aus der Hirnforschung geben uns allen Grund, Freuds Ansichten über die Funktion des Träumen ernst zu nehmen, die er vor über 100 Jahren formulierte: dass nämlich Träume motivierte Phänomene sind und ihre Triebkraft unbewusste Wünsche und Konflikte darstellen. Verfasserin: MARIANNE LEUZINGER-BOHLEBER (Professorin für Psychoanalyse an der Gesamthochschule Kassel und stellvertretende Direktorin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt), veröffentlicht in: ‚Gehirn und Geist‘ 12/2006.