Traumdeutung

Wissenschaftliches


Im Jahre 1953 begann die moderne Traumforschung. Im Schlaflabor wurde beobachtet, dass Menschen in bestimmten Phasen des Schlafes heftige Augenbewegungen (Rapid Eye Movements oder REM) zeigen. Weckt man sie in diesen Schlafphasen, dann können sie häufig über intensive bildhafte und lebendige Träume berichten. Inzwischen wissen wir, dass auch im Nicht-REM-Schlaf geträumt wird. Solche NREM-Träume werden eher als „Gedanken im Schlaf“ beschrieben. Das wiederholte Träumen während der Nacht ist ein Hinweis darauf, dass im Schlaf Informationsverarbeitung stattfindet. Die an der Traumentstehung maßgeblich beteiligten Regionen des Gehirns haben mit den psychologisch hoch bedeutenden Funktionen des Wünschens und Begehrens und der Erinnerung an gute und problematische Beziehungserfahrungen zu tun (implizites Beziehungsgedächtnis). Träume haben also psychologische Wurzeln und Motive.

Jeder Mensch träumt in jeder Nacht, bei durchschnittlicher Lebenserwartung träumen wir rund 150.000 Träume in unserem Leben. Davon erinnern wir allerdings die wenigsten. Das ursprüngliche Traummotiv wird im manifesten Traum bildhaft oder szenisch ausgestaltet.

Träume sind oft wie ein Drama aufgebaut: es gibt einen Ort, eine Zeit, einen Raum, Personen, die schauen, denken, fühlen. Eine Exposition stellt das Grundmotiv oder das Traumproblem heraus. Danach folgt eine Verwicklung: etwas spitzt sich zu. In derPeripetie erreicht die Verwicklung ihren Höhepunkt und führt zum Umschwung: zur Wandlung zum Guten oder zur Katastrophe. Die Lysis stellt den sinnvollen Abschluss des Traums dar mit eventuellen kompensatorischen oder prospektiven Hinweisen. Den manifesten Traum werden wir aber oft nur teilweise erinnern und in unserem Traumbericht durch sprachliche Glättung, Auslassungen und erzählerische Hinzufügungen noch weiter verändern.

Die Traumerinnerung hängt auch davon ab, wie man aufwacht: wird man vom Wecker geweckt und muss rasch aufstehen, vergisst man die Träume viel eher, als wenn man sich noch ein paar Momente besinnen kann. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Fähigkeit zur Traumerinnerung in unseren frühen Beziehungen ebenso mehr oder weniger entwickelt wird, wie die Symbolisierungsfähigkeit überhaupt.

Im Träumen werden Informationen aus ganz verschiedenen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbereichen miteinander verknüpft. Ein Traum wird oft durch unverarbeitete Tageseindrücke (Tagesrest) ausgelöst. Unser Gehirn aktiviert nun Gedächtnisinhalte, die diesem Tagesrest ähnlich sind: Erlebnisse und Gefühlszustände, aber auch Konflikte und Probleme ebenso, wie alte Bewältigungsstrategien und Lösungen. Der unverarbeitete Tagesrest wird im Traum mit den früheren Erfahrungen abgeglichen und es werden neue und oft merkwürdig wirkende Verknüpfungen in der Traumgeschichte geschaffen.

Der manifeste Traum ist als ein Lösungsversuch durch Informationsverarbeitung zu betrachten: er ist eine Hinführung zu kreativen Alternativen und zur Problembewältigung aus dem Unbewussten heraus. Der Traum kann diese Funktion übernehmen, weil er meist aus derselben psychischen Schicht heraus entsteht, aus der auch die aktuellen Konfliktthemen der Träumerin oder des Träumers stammen.

Der Kern der Traumanalyse und Traumdeutung besteht deshalb darin, die im Traum erscheinenden unbewussten Erfahrungen und Komplexe zu erfassen und ihren Sinn als Lösungs- und Bewältigungsversuche zu verstehen und mitzuteilen. Dazu ist eine Anreicherung des Traummaterials (Amplifikation) unter verschiedenen Gesichtspunkten sinnvoll, die den Traum in einem neuen Kontext erscheinen lassen. Dadurch ergeben sich für die Träumerin und den Träumer neue Bewertungen und neue Verknüpfungen, die letztlich und nach längerer Einübung eine Umstrukturierung des Beziehungsgedächtnisses mit sich
bringen.

Zur Geschichte der Traumforschung
Die psychologische Bedeutung der Träume ist immens: von alters her haben die verschiedensten Kulturen deshalb Traditionen der Traumdeutung entwickelt. Die Hochkulturen der alten Chinesen, Babylonier, Perser, Ägypter, Juden beobachteten Träume ebenso sorgfältig, wie die verschiedensten „Naturvölker“. Die Religionen der Antike schätzten die Traumdeutung ebenso sehr, wie die „primitiven“ Stammesreligionen. Vom Traumerleben her erklärten sich zahlreiche Vorstellungen über Geister und Dämonen, Magie und Wunder, und erst vom Traumerleben her finden die Erzählformen der Märchen, Mythen, Sagen, Legenden, Apokalypsen usw. ihren Sinn.

Allen diesen religiös geprägten Traumlehren vor Sigmund Freud (1856-1939) ist gemeinsam, dass sie Träume als etwas Überindividuelles betrachten, insbesondere als Ausdruck transzendenter, schicksalhafter göttlicher oder mystischer Kräfte, die den träumenden Menschen zum Sprachrohr jenseitiger oder überzeitlicher Botschaften machen.

Erst Freud rückte das Individuum, den einzelnen Träumer in das Zentrum seiner Überlegungen. Seine Traumtheorien bildeten die Grundlage zu einer neuen Theorie des individuellen Seelenlebens, die er Psychoanalyse nannte.

In seinem im Jahr 1900 erscheinenden grundlegenden Werk „Die Traumdeutung“ legte Freud im siebenten Kapitel die erste umfassende Ausarbeitung seiner Lehre von den Funktionen desdynamischen Unbewussten vor. Das dynamische Unbewusste ist das Unbewusste, das im Verlauf der persönlichen Lebensgeschichte durch Verdrängung erworben wird. Das Verdrängte entsteht aus Erfahrungen mit der Umwelt durch Abwehrprozesse.

Es ist abzugrenzen vom kollektiven Unbewussten, das auf der Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gattung Mensch, der menschlichen Gesellschaft und zu bestimmten Kulturen beruht. Das kollektive Unbewusste, über das vor allem C. G. Jung geforscht hat, enthält „Wissen“ über das Menschsein im Allgemeinen, seine Entwicklung und über die Gesetzmäßigkeiten des Lebens und Sterbens. Dieses Wissen findet in Märchen, Mythen, Archetypen oder archetypischen Konstellationen seinen Ausdruck, in Geschichten und in Bildern, die von ganzen Kulturen oder Gesellschaften und vom Einzelnen ausgeformt, aber nicht erschaffen werden.

Freud und seine Nachfolger
Am Anfang der Traumentstehung steht bei Freud der Tagesrest und ein unbewusstes Motiv, der latente Traumgedanke, das den Anstoß zum Träumen gibt. Nach Freud handelt es sich dabei immer um einen verdrängten infantilen libidinösen Triebwunsch, nach heutiger Auffassung um ein breites Spektrum unbewusster Motive.

Der latente Traumgedanke wird von der Traumzensur verändert, um das Bewusstsein vor Überflutung aus den Unbewussten zu schützen. Den Prozess, über den das geschieht, nennt Freud die Traumarbeit, die im Wesentlichen aus einem Prozess der Verschiebung, Verdichtung, Visualisierung und der sekundären Traumbearbeitung besteht. Die sekundäre Traumbearbeitung sorgt dafür, dass wir eine logische, erzählbare Geschichte als manifesten Traum erleben. Eine weitere Zensur befindet darüber, was wir von einem Traum anderen erzählen und wie wir es tun.

Nach Freud ist der Traum stets eine (Trieb-)Wunscherfüllung oder der Versuch dazu. Durch die Traumarbeit werden verdrängte Wünsche daran gehindert, sich ins Bewusstsein zu drängen: so erhält der Traum seine Funktion als „Wächter des Schlafes”.

Die Entwicklung der Traumtheorie fand lange vor der Einführung des Strukturkonzepts durch Freud im Jahre 1923 statt, in dem er die Unterscheidung zwischen drei seelischen Instanzen, dem Ich, dem Es und dem Überich definierte. Freuds Nachfolger entwickelten die Ich-Psychologie, in der sie betonten, dass man den Traum nicht ausreichend würdige, wenn man ihn nicht in dieses Strukturmodell einordne und insbesondere Ich-Zustände und Ich-Funktionen wie z. B. die Realitätsprüfung oder die Art des Denkens und sein Regressionsniveau hinreichend berücksichtige.

Der manifeste Traum mit seinen zeitlichen, affektiven, räumlichen und interpersonellen Kon-figurationen wurde nun neu bewertet: es stand nicht mehr die Suche nach dem verdrängten Triebwunsch und unbewussten Konflikten an erster Stelle, sondern die Deutung unter der Perspektive verborgener schöpferischer und konstruktiver Kräfte des Ich.

Die Selbst-Psychologie lenkte die Aufmerksamkeit auf eine weitere Funktion des manifesten Traums, indem sie anregte, aus ihm narzisstische Aspekte wie Größenselbst-Phantasien und narzisstische Verwundungen unmittelbar zu erkennen.

Allerdings blieben auch die Psychoanalytiker nicht unbeeindruckt von den zahlreichen Versuchen, dem Träumen fassbaren Sinn abzusprechen und es auf die Ebene nächtlicher neuronaler Entladungen herabzuwürdigen: in den Veröffentlichungen über psychoanalytische Behandlungstechnik wurde der Trauminterpretation in den letzten Jahren weniger Beachtung geschenkt.

Erst in letzter Zeit kommt es unter dem Eindruck neuerer hirnphysiologischer und traumbiologischer Forschungen dazu, dass z. B. der SPIEGEL (B. Lakotta: Die Natur der Seele) am 18. 5. 2005 titelt: Freud ist wieder da – überall auf der Welt fahnden Neurobiologen, Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker in Arbeitsgruppen nach Schnittstellen ihres Wissens. „Freuds Einblicke in die Natur des Bewusstseins”, postuliert Neurobiologe Damasio, „stehen in Einklang mit der Sichtweise der fortgeschrittensten modernen Neurowissenschaften.” … Von der Couch ins Labor verlagert sich auch die Erforschung des Traums, für Freud der Königsweg zur Kenntnis des Unbewussten. Wenn der Psychologe Stephan Hau im Keller des Sigmund-Freud-Instituts mit Hilfe des EEGs seziert, was die Gehirne seiner Testschläfer hervorbringen, geht es allerdings kaum um die Deutung der nächtlichen Hirngespinste. Hau will herausfinden, wozu Träume gut sind. Darüber hat die Hirnforschung einige Theorien gebildet. Aus evolutionstheoretischer Sicht etwa durchlebt der Schläfer die wirren Streifen als Trainingslager: Indem er die Prüfung verpasst, mit dem Fahrrad in den Abgrund rast oder gegen gefährliche Tiere kämpft, probt er den täglichen Überlebenskampf. Wer träumt, besagen andere Theorien, verarbeitet dabei Stress oder konsolidiert sein Gedächtnis. Um Erinnerungsforschung geht es auch in einigen der Experimente, die Hau betreibt: Welche Reize gelangen überhaupt ins Bewusstsein? Wie zerlegt sie der Traum und arbeitet sie in neue Zusammenhänge ein?

Hau hat gezeigt, wie Wahrnehmungssplitter vom Tag ins Traumgeschehen geraten, ein Vorgang, den Neurowissenschaftler „vorbewusstes Processing” nennen. Subliminal, also unterhalb der Wahrnehmungsschwelle von einer 150stel Sekunde, präsentierte er Probanden vor dem Einschlafen eine Strandszene, auf der ein Haus mit einem dreieckigen roten Dach zu sehen war. Wenn die Schläfer ihre Träume zeichneten, tauchten auf den Bildern rote Dreiecke auf, für die sie keine Erklärung hatten.

Zur Zeit sucht Hau nach Hinweisen auf den Mechanismus der Abwehr – nach Freud ein unbewusster Vorgang, mit dem wir unangenehme Inhalte von uns fern halten.

Probanden bekamen – wiederum subliminal – ein beunruhigendes fledermausartiges Gebilde zu sehen. Bat der Psychologe sie, im Wachzustand freie Einfälle zu schildern, hatte der Reiz darauf offenbar keinen Einfluss. In ihren Träumen hingegen wurden die Testpersonen anschließend von Angstszenarios wie Raubvögeln oder unheimlichen Landschaften heimgesucht.

C. G. Jung und seine Nachfolger
Carl Gustav Jung (1875-1961) war jahrelang Freuds engster Mitarbeiter. Aus inhaltlichen Gründen entwickelte C. G. Jung eine eigene tiefenpsychologische Richtung, die er „Analytische” oder „Komplexe Psychologie” nannte. Jungs zentrale Idee war, dass jeder Mensch (zunächst unbewusst) ein ganz individuelles Entwicklungskonzept in sich trägt, das in seinem Selbst verankert ist und sich über einen Prozess der Individuation verwirklichen möchte. Der Teil des Selbst, den wir bereits bewusst erkennen und realisieren können, ist das Ich.

Im Traum stellt sich nach Jung die aktuelle Lage des Selbst in symbolischer Ausdrucksform dar. Der Traum vermittelt in symbolischer Form Mitteilungen aus dem Selbst an das Ich, die wir für unsere Weiterentwicklung, für unseren Individuationsprozess nutzen können.

Der manifeste Traum enthüllt nach Jung konstruktiv und auf Lösungen abzielend die Tendenzen des Unbewussten, während er sie nach Freud eher defensiv verhüllt, um seiner Funktion als „Hüter des Schlafes” nach-
kommen zu können.

Träume haben nach Jung eine heilende Wirkung, weil sie dem Ich-Bewusstsein ungelebte, vernachlässigte Möglichkeiten der Persönlichkeit mitteilen können. Träume haben eineprospektive, also eine zukunftsgerichtete, vorausschauende Funktion, indem sie Hinweise auf Neuorientierung, Neubewertung und Konfliktlösungen erkennen lassen. Träume können deshalb Menschen helfen, zu sich zu finden und ihre Lebensmöglichkeiten durch verbesserte Selbsterfahrung und Selbstfindung auszuschöpfen.

In der jungianischen Trauminterpretation geht es zentral darum, den Sinn eines jeweiligen Traums zu erkennen. Neben den Assoziationen der Träumerin oder des Träumers bemüht sich der jungianische Trauminterpret in einem dreistufigen Vorgehen darum,
a) die Traumelemente und Traummotive in ihrer konflikthaften oder wunschhaften Verbindung mit den Beziehungspersonen zu erkennen (Objektstufe);
b) die Traumelemente und Traummotive als Symbole für verschiedene Aspekte des Selbst zu sehen (Subjektstufe);
c) die Traumelemente und Traummotive in ihrer Verbindung mit Inhalten des kollektiven Unbewussten zu erkennen (archetypische Deutungsebene).

Melanie Klein und ihre Nachfolger
Die Kinderanalytikerin Melanie Klein (1882-1960) begründete in England eine eigene psychoanalytische Richtung. Im Unterschied zu Freud sah sie die latenten Traumgedanken nicht als Ausdruck verdrängter libidinöser Wünsche. Sie war vielmehr der Auffassung, dass Triebe vom Beginn des Lebens an einen psychologischen Ausdruck in Form unbewusster Beziehungsphantasien zu inneren „Objekten” annehmen. Innere Objekte beherrschen die seelische Welt wie ein Gegenüber, es werden ihnen eigene Absichten gegenüber dem Subjekt unterstellt, die gut oder böse sein können. Die innere Welt von bösen und guten Objekten bildet nach Klein den Inhalt des Unbewussten. Im latenten Traumgedanken geben sich diese primär unbewussten Objektbeziehungsphantasien in einer auf die Traumszene projizierter Form zu erkennen.

Traumdeutung ist aus Sicht der heutigen Kleinianer eine Funktion des Containing: unbewusste Objektbeziehungsphantasien der Träumerin oder des Träumers werden vom Psychotherapeuten aufgenommen, der darüber nachsinnt oder „nachträumt”, sich gewissermaßen vom Traum „berühren” lässt, um dann die eigene Erfahrung im inneren Kontakt mit dem Traummaterial einfühlend-deutend und begleitend rückzuvermitteln.

In unserem Traumforschungsprojekt werden alle dargestellten Ansätze als einander ergänzend betrachtet, als unterschiedliche Perspektiven und Ebenen, aus denen prinzipiell jeder Traum betrachtet werden kann, der überwiegend konflikthafte oder konstruktiv-prospektive Inhalte des Unbewussten zum Ausdruck bringt.

Es gibt allerdings auch andere Träume, die unverhüllt Zustände des Ich wie heftige Affekte, gewalttätige oder andere Impulse, Gefühle von Bedrohung und Gefahr zum Ausdruck bringen. Solche Träume bringen Gefährdungen des Selbst, gespürte Gefahren des Selbstzerfalls, der Selbstfragmentierung oder andere schwierige Selbstwahrnehmungen der Träumerin oder des Träumers zum Ausdruck. Bei solchen Träumen geht es darum, im Traummaterial nach möglichen Ansätzen für Ich-Stärkung und Bewältigungsstrategien zu suchen und für Problemlösungen nutzbar zu machen, ohne diese Träume überzubewerten und zu idealisieren.

(siehe dazu ->Literatur, vgl. besonders Ermann 2005)