Das Träumen
Die Bedeutung des Traums und des Träumens
Der Traum ist eine spontane Selbstdarstellung der aktuellen Lage des Unbewussten in symbolischer Ausdrucksform. Der Traum ist eine Abbildung der momentanen intrapsychischen Dynamik.
Der Sinn des Träumens liegt darin, eine Kommunikation zwischen Bewusstsein und Unbewusstem anzuregen. Dadurch wird seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt beziehungsweise psychische Entwicklung und Wachstum ermöglicht.
Wir verstehen den Traum als
- eine Reaktion des Unbewussten auf eine bewusste Situation;
- eine Reaktion des Unbewussten auf eine bewusste Situation, die ergänzt oder kompensiert wird mit dem Ziel der Veränderung der bewussten Einstellung;
- eine spontane Produktion des Unbewussten, die einer bewussten Situation einen anderen unbewussten Aspekt als Ausdruck eines Konfliktes gegenüberstellt;
- Ausdruck und Produkt spontaner unbewusster Prozesse ohne Beziehung zum Bewusstsein.
Traumauslösend können somatische Prozesse sein, innerpsychische Impulse wie die Konstellation bestimmter Komplexe, physische oder psychische Umweltereignisse, aber auch Erwartungen und die Antizipation zukünftiger Ereignisse.
Der Traum hat eine wichtige Aufgabe im autoregulativen System der Psyche. Er entsteht an der Grenzfläche zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein. Durch ihn werden Information und psychische Energie zum Ich-Bewusstsein hin transportiert. Die Symbolesind dabei die Energie- und Informationsträger.
Traumsymbole haben eine synthetische Funktion, wenn sie logisch unvereinbare Gegensätze in ein Bild bringen. Sie haben eine transzendente Funktion, wenn sie die „Bedürfnisse” des „Ich” und des „Selbst” zueinander in Beziehung setzen. Symbole stehen nie allein, sie sind in eine Symbos eingeschlossen.
Bewusstseinsorgan des Traumes ist das Traum-Ich, das mit Hilfe der Dynamik von Regression und Progression ins Unbewusste „taucht” und aus den Komplexbereichen und schließlich – wenn die Komplexbarriere überwunden wurde – aus den archetypischen Bereichen unbewusstes Material mit „an die Oberfläche” bringt. Unter Mitarbeit der vier Orientierungsfunktionen Denken, Fühlen, Intuieren und Wahrnehmen wird dieses Material mit dem Bewusstsein verbunden und kann dann integriert werden.
Im Traum-Ich treten auch unbewusste Elemente in Erscheinung, die sich in ihrer Andersartigkeit und Auffälligkeit gegenüber dem Ich im Wachzustand wie ein Alter Ego zur Bewusstwerdung anmelden.
Das Traummotiv ist meist eine optische Darstellung von Assoziationen, die zu Komplexen gehören. Die Traumbilder sind durch ein verursachendes Faktorenbündel bestimmt.Komplexe sind im Traum erkennbar, indem sie direkt in Personen, Tieren oder Objekten dargestellt werden oder, indem sie indirekt die Struktur des Traumes plötzlich stören oder unterbrechen oder, indem heftige Affekte im Traum auftreten oder indem der Traum abrupt beendet wird.
Allgemein stellt die direkte, personifizierte Darstellung eines Komplexes einen Fortschritt
gegenüber der indirekten dar.
Ein Komplex im heutigen Sinn besteht aus einer angeborenen Erwartung, deren mentaler Repräsentation und aus den mit ihr verbundenen Gefühlen. Die gegenwärtige Erfahrung wird interpretiert und beantwortet jeweils im Licht des Komplexes, der die Aufmerksamkeit kontrolliert. Komplexe können „hemmend” im Sinne einer Abwehrformation oder „fördernd” wirken.
Wir verstehen Komplexe als Vernetzungsstrukturen in der Matrix aller verinnerlichten Interaktionserfahrungen des Kindes mit seinen Objekten, bestehend aus inneren Arbeitsmodellen, Affekten und Erwartungsmustern, die aufgrund ihrer „affektiven Wertigkeit” und der verbundenen Beziehungsphantasien teils im impliziten (prozeduralen) Gedächtnis, teils im expliziten (deklarativen) Gedächtnis gespeichert werden und die z. T. bewusst, überwiegend aber unbewusst sind.
Traumstruktur und Traumtypen
Träume sind wie ein Drama aufgebaut: es gibt einen Ort, eine Zeit, einen Raum, Personen, die schauen, denken, fühlen.
Die Exposition stellt das Grundmotiv = Traumproblem heraus. Danach folgt eineVerwicklung: etwas spitzt sich zu. In der Peripetie erreicht die Verwicklung ihren Höhepunkt und führt zum Umschwung: zur Wandlung zum Guten oder zur Katastrophe. DieLysis stellt den sinnvollen Abschluss des Traums dar mit eventuellen kompensatorischen oder prospektiven Hinweisen. Es können einzelne Phasen fehlen, was Gegenstand unserer Aufmerksamkeit wäre.
Wir unterscheiden einfache Träume mit Inhalten des persönlichen Unbewussten und des Kollektiven Bewusstseins von archetypischen Träumen, die Symbolik enthalten, die in der kollektiven Geistesgeschichte aufgefunden werden können: Mythologeme, Märchenmotive, religiöse Motive, rituelle Vollzüge, sie haben Offenbarungscharakter, drängen zum Nachdenken und nach Mitteilung („Großträume”).
Archetypische Träume treten oft in Krisen- und Schwellensituationen auf wie in Initial- oder Schlussphasen von Behandlungen, aber auch am Beginn einer psychischen Erkrankung. Menschen mit Frühstörungen oder Psychosen werden oft überschwemmt von archetypischem Traummaterial.
Funktionen des Traums
Der Traum schildert die innere Situation des Träumers. Er ist die Äußerung eines unwillkürlichen, dem Einfluss des Bewusstseins entzogenen, unbewussten seelischen Prozesses, der die innere Wahrheit und Wirklichkeit so darstellt, wie sie ist. Träume sind wie Ergebnisse physiologischer Vorgänge.
Die kompensatorische und komplementäre Funktion: Die Begriffe bezeichnen eine ausgleichende Korrektur der Einseitigkeit bewusster Haltungen und Anschauungen. Sie beziehen sich auf die Erweiterung der bewussten Einstellung, z. B. über Schattenaspekte, als Probehandeln etc. Die kompensatorische Funktion ist umso intensiver und polarer, je weiter das Ich und die bewusste Persönlichkeit vom Optimum psychischen Funktionierens entfernt sind.
Die retrospektive und die prospektive Funktion: letztere bezeichnet Lösungsentwürfe der
unbewussten Psyche für bestimmte Konflikte und Probleme, wirkt also final, auf einen Endzweck hin. Der Traum hätte so eine Ursache „in der Zukunft” und nicht nur eine kausale Verursachung aus der Vergangenheit, d. h. aus ihrer retrospektiven Funktion.
Die reduktive Funktion: reduktive Träume wirken und – Illusionen i. S. einer Kritik aus dem eigenen Unbewussten, sie korrigieren auch Überschätzungen und Idealisierungen anderer Personen.
Der Initialtraum: einer der ersten Träume, der mitgeteilt wird. Der Initialtraum verweist oft diagnostisch auf die Grundkonflikte, auf bedeutsame ätiologische Faktoren oder wesentliche psychische Störungen. Initialträume enthalten oft prospektive und progressive Elemente und geben Hinweise auf Entwicklungstendenzen und Entwicklungsmöglichkeiten – aber auch auf Widerstandspotential. Initialträume beschreiben oft die Einstellung zum und Erwartungen an denjenigen, dem sie mitgeteilt werden. Insofern können sie prognostisch herangezogen werden.
Als Initiationstraum bezeichnen wir den ersten archetypischen Traum: er markiert oft den Beginn der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten.
Deutungselemente
In der Technik der Traumarbeit lassen sich zunächst zwei Typen unterschieden: eineinhaltsorientierte und eine auf die Art der Mitteilung hin orientierte Arbeit an Träumen. Es sollten eher Fragen nach möglichen Bedeutungen, als Deutungen gegeben werden im Sinne der Sokratischen Mäeutik = Hebammenkunst.
In unserem Forschungsprojekt verzichten wir auf die in der Psychotherapie sinnvolle und notwendige Aufnahme des Kontextes eines Traumes. Hier verstehen wir die Traumserie als Kontext unserer Interpretationen. Wir gehen dabei von der Hypothese aus, dass spätere Träume die früheren ergänzen und erweitern.
Deutungsebenen: Objektstufige, subjektstufige und archetypische Deutung
Als Ebenen der Arbeit am Traum lassen sich zunächst Objektstufe, Subjektstufe und archetypische Ebene unterscheiden. Auf diesen Ebenen kann gefragt werden nach:
- Kompensationsaspekten
- Tagesresten
- Vergleich von Wach-Ich und Traum-Ich
- Übertragungsanteilen
- Ich-Funktionen
- Konfliktkonstellationen im dra matischen Aufbau
- Komplexhinweise und -merkmale
- Widerstandselemente
- kausale und genetische Elemente
- prospektive Elemente
Objektstufe: In der objektstufigen Betrachtung sind Traumfiguren und Symbole mit realen Objekten/Personen identisch, der Traum behandelt die Beziehung des Träumers zu diesen. Bekannte Figuren im Traum entsprechen eher der Objektstufe. Die objektstufige Deutung kann vor der subjektstufigen erfolgen.
Subjektstufe: In subjektstufiger Sicht sind Traumfiguren und Symbole projizierte Darstellungen eigener seelischer Anteile, sie beschreiben in der klassischen Auffassung Beziehungen zwischen dem Ich-Komplex und „Personifikationen” der Innenwelt. In der intersubjektiven Auffassung sehen wir die Traumsymbole eher in Verbindung mit der Beziehungskonstellation Träumer – Trauminterpret.
Archetypische Ebene: Hier geht es einerseits um die Erfassung archetypischer Dimensionen im Traummaterial, andererseits um „archetypische Bereitschaften”, die noch nicht in Objektbeziehungen realisiert sind.
Der Traum in der Analytischen Psychotherapie
Die entwicklungspsychologische Richtung in der Analytischen Psychologie, ausgehend von Michael Fordham, vertritt die Ansicht, dass es sich bei der menschlichen Entwicklung von Anfang an um einen Austauschprozess zwischen zwei Subjekten handelt, die miteinander fortlaufend Beziehungen aufbauen und Erfahrungen machen, welche die innere Welt formen. Bereits vor der Geburt existiert ein primäres Selbst, das alle psychophysiologischen Potenziale bereits enthält. Diese nehmen die Form von archetypischen Erwartungen an die Innen- und Außenwelt an. In einem Prozess der Deintegration dieser Erwartungen und der Reintegration der gemachten intersubjektiven Erfahrungen vollzieht sich ein Prozess der Entwicklung von Teilobjektbeziehungen bis hin zu vollständigen Objektbeziehungen. Ein entscheidender Punkt in der Entwicklung des Individuums ist hierbei (angelegt in der frühen Fähigkeit zur Symbolisierung) die Erfahrungen des Dritten im Sinne der Fähigkeit, die Zwei zu denken und zu erleben.
Die Fordhamsche Auffassung vom Individuationsprozess als fortwährende De- und Reintegration von Selbstanteilen, die sich in der Interaktion zwischen Subjekten als Austausch- und Entwicklungsprozess realisieren, kann auch auf unsere Traumforschungssituation und die Verwendung der Träume in dieser angewandt werden: wie im frühen Entwicklungsprozess werden dem Trauminterpreten bisher nicht integrierbare „Deintegrate” angeboten, zu deren vollständiger Reintegration die innere Arbeit des Analytikers erforderlich ist.
Mitgeteilte Träume sind nicht als Träume einer Psyche über sich selbst aufzufassen und liegen nicht ausschließlich im Innenraum der Träumerin oder des Träumers. Der Traum teilt etwas über das affektive, implizite Beziehungsfeld mit den Bezugspersonen und nach und nach auch mit dem Trauminterpreten mit, auch über Aspekte, über die vielleicht noch nicht nachgedacht werden kann. Er sollte ergänzt sein durch den Traum oder die Rêverie des Trauminterpreten. Der Prozess der Symbolisierung und die Erzeugung neuer Bedeutungen geht aus dem Austausch zwischen der Träumerin/dem Träumer und dem Trauminterpreten hervor. Wir verzichten deshalb auf die Deutung von Traumsymbolen an sich weitestgehend.
Diese Sichtweise bringt es mit sich, auch auf der Subjektstufe der Traumbetrachtung weniger nach „innerseelischen Anteilen“ zu suchen, als nach strukturell geprägten Phantasien über Beziehungsaspekte und Komplexe als Inhalte des impliziten Beziehungsgedächtnisses. Die prospektive Funktion des Traumes besteht so gesehen in einer Phantasie über die Entwicklung von Beziehungen und von Beziehungskonflikten.
Träumen als psychische „Hintergrundaktivität”
Neurophysiologische Untersuchungen untermauern die Ansicht, dass Träumen ständig geschieht, d. h. dass der erlebte Traum lediglich eine besonders „hervorragende” oder affektiv bedeutsame Sequenz des unbewussten psychischen (Traum-)Prozesses bezeichnet, die das Bewusstseinsfeld erreichen kann, wenn ein gewisser Aktivierungsgrad der Grundmechanismen des Kernbewusstseins vorliegt.
Daraus ergibt sich, dass der einzelne Traum vermutlich wenig aussagekräftig ist gegenüber der Betrachtung der Sequenz möglichst aller Träume in einer Behandlung. Erst die Betrachtung einer Traumserie lässt eine bessere Beurteilung der unbewussten Konfliktkonstellation, der Komplexe und der unbewussten Anteile der strukturellen Eigenarten der Träumerin/des Träumers zu.
Die Beobachtung einer Traumserie sagt uns aber auch gleichzeitig etwas über den zeitlichen Verlauf bestimmter struktureller Veränderungen und Transformationen der Beziehungskonstellation zwischen der Träumerin/dem Träumer und dem Trauminterpreten.
Das SOMNI-Projekt ist auf die Interpretation der persönlichen Traumserie ausgerichtet mit der Absicht, der Träumerin/dem Träumer einen erweiterten Zugang zur eigenen unbewussten kreativen und problemlösenden Intelligenz zu eröffnen.