Das Gehirn auf dem Sprung…

Das Gehirn auf dem Sprung…

Ist unser Gehirn als solches kreativ? Diese Frage haben Neurobiologen bis heute nicht eindeutig beantwortet.

Sie verwenden höchst unterschiedliche Konzepte und Metaphern, um Hirnfunktionen zu erklären. Vielen erscheint das Gehirn als eine Art „Neuro-Computer“, der zentralnervöse Funktionen steuert. Computer sind aber im Wesentlichen Daten auswertende Maschinen. Gleichzeitig gibt es eine Reihe von neurobiologischen Orientierungen, die mit der Frage nach Kreativität im Zentralen Nervensystem (ZNS) viel anfangen können. Für den Neurobiologen Christoph von der Malsburg ist das ZNS eine „Suchmaschine“: Es ist „auf etwas aus“, es ist ständig auf der Suche nach Bedeutungsvollem. Aus dem nahezu „unendlichen Rauschen“ von Sinnesdatenlagen sucht das ZNS signifikante Muster heraus, die für das biologische System von Bedeutung sein können. Der Neurobiologe Martin Heisenberg sieht das Gehirn quasi „immer auf dem Sprung“. Es ist Träger von Spontaneität. Gehirne reagieren nach diesem Konzept nicht einfach nur auf das, was passiert, sondern sie konstellieren etwas, sie schaffen eine Situation, in der sie initiativ werden. Heisenberg widerspricht damit dem klassischen Bild des Verhaltensreflexes in einer biologisch relevanten Situation. Das ZNS werde in diesen Modellen als zu passiv dargestellt. Eine aktivere Rolle spielt das Gehirn bei den „Konstruktivisten“ unter den Neurobiologen. Sie schreiben ihm eine Wirklichkeit schaffende Funktion zu. Gerhard Roth hat sie als „Konstruktivität von Gehirnen“ beschrieben: Im Gehirn stehen kreative, Wirklichkeit schaffende Funktionen des ZNS den Funktionen gegenüber, die Sinnes-Daten verarbeiten. Wenn sich dem Menschen verschiedene Handlungsoptionen bieten, läuft nach Heisenberg im Gehirn etwas Analoges ab: Mögliche Wirklichkeitsoptionen für geplante Handlungen werden gewissermaßen gegeneinander abgewogen, im Sinne einer „Lotterie der Angebote“ (lottery of proposals). Nur eine Erfolg versprechende mögliche Handlung wird auch realisiert. Hier kommt die Kreativität ins Spiel: Sie ist notwendig, um neue Handlungsmöglichkeiten zu erzeugen. Wie lässt sich nun diese Art von Kreativität erklären? Ein neurobiologisch grundlegendes Prinzip für Kreativität scheint darin zu liegen, dass die „Bildung von Varianten“ möglich wird. Bereits Goethe war der Auffassung, dass Kreativität mit der Produktion von Varianten des bereits Gegebenen zu tun hat: „Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie produktiv, indem sie das Angefasste belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt.“ Vom neurobiologischen Standpunkt aus scheint Kreativität mit einer Art von „Überschussproduktion“ zu tun zu haben. Wie der Neurobiologe Walter Heiligenberg zeigte, entstehen neue Funktionen evolutionsbiologisch dadurch, dass neuronale Netze vervielfacht werden und dann in neue Funktionen hineindriften können. Ein Beispiel aus der Evolutionsgeschichte: Der „elektrische Fisch“ kann die Schwimmhöhe nach der CO2-Konzentration regulieren; analoge Netze reagieren auf die umgebende Temperatur. Diese Umwandlung scheint auf der semantischen Ebene ebenfalls möglich zu sein: Wirklichkeitsoptionen, die nicht optimal funktionieren, könnten dem Gehirn Anlass zur Variantenbildung geben. Durch die Wirksamkeit des „reaktiven Konzeptualisierungsdrucks“ werden neue Wirklichkeitshypothesen kreativ gebildet. Damit gelingt uns eine Erkenntnisleistung, die zunächst nicht möglich zu sein schien. So können Vexierbilder unverständlich bleiben, bis jemand uns eine „Deutungshilfe“ gibt: etwa eine Silhouette, die das Bild entschlüsselt. Übersteigerte Kreativität kann in Einzelfällen zu psychotischen Ausnahmezuständen und Nervenzusammenbrüchen führen, wie man dies von Drogenerfahrungen und schizophrenen Episoden her kennt. Hiergegen setzt das Gehirn Prozesse in Gang, die seine Leistungsfähigkeit selbst beschränken. Sie werden auch als Zensurleistungen beschrieben. Derartige Vorgänge im Gehirn gehören derzeit zu den spannendsten Forschungsthemen der Neurobiologie. Schon Goethe beschäftigte die Notwendigkeit, seinem Denken von Zeit zu Zeit Grenzen zu setzen: „Die Phantasie in meinem Sinn ist heute gar zu herrisch, fürwahr, wenn ich das alles bin, so bin ich heute närrisch.“ Von Hinderk M. Emrich, Tagesspiegel 24. 9. 2005 Der Autor lehrt Neurologie und Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule und Philosophie an der Universität Hannover.